Schlagwörter
Ballettunterricht, Büchertürme, Buchhandel, Frankfurt, Frankfurter Eintracht, Gedetschter, Läden aus Kindertagen, Wasserhäuschen
lese ich im benachbarten Teestübchen und schon startet der Film im Kopfkino so, als sei er erst gestrig gedreht.
1969 ist es, als ich gerade fünfjährig an der Hand meiner Mutter durch das frankfurter Nordend laufe. Meist bin ich nicht bei ihr, sondern bei meinen Großeltern in Italien. Wenn ich aber in Frankfurt bin, gehen wir gemeinsam Milch kaufen. Ich hasse das Geschäft, das eine Meierei ist. Es gibt frische Kuhmilch (die ich verabscheute) und Eier. Der Geruch des Ladens hat sich mir bis heute eingeprägt. Angeblich hatte ich schon die Muttermilch nicht gern getrunken, aber die war glücklicherweise rationiert, denn man hielt in den frühen 60ern noch viel davon, Kindern einfach mal schreien zu lassen. Offenbar hatte ich früh schon eine gute Portion Trotz und Unabhängigkeit entwickelt. Gibst Du mir keine Milch, will ich auch keine von der Kuh. Fertig. Es war ein Heidenspaß, die Mutter durch Appetitlosigkeit zu sorgen. Der Kinderarzt empfahl appetitfördernde Tropfen, die mit Eierlikör einzunehmen seien. Den mag ich bis heute.
1970 ist es, als ich frisch eingeschult und also damit schon fast erwachsen mit der ums-Eck-Freundin zum Wasserhäuschen am Holzhausenpark gehe. Eigentlich gehen wir dort nur vorbei, aber es ist sehr verlockend, diese trinkenden alten Männer anzuschauen, die immer ein bisschen unangenehm riechen, aber zu uns hochfreundlich sind. Wir kaufen Wassereis und schauen den alten Männern dabei zu, wie sie hinter das Wasserhäuschen pinkeln. Eklig und merkwürdig finden wir das, aber wenn die großen Jungs kommen und uns Prügel androhen, dann verjagen sie sie und wir schauen Enten dabei zu, wie sie die Holzhausenstraße überqueren, fast so, als wollten sie sich auch was am Wasserhäuschen holen.
1973 ist es, als ich neunjährig und mit erstem Taschengeld versehen, mit der Freundin aus Kindergartentagen zum Ballettunterricht in die Geschäftsstelle der Frankfurter Eintracht im Bornwiesenweg laufe. Wir gehen zunächst zum Turnunterricht und die Räder und Unterschläge auf Balken und Stufenbarren gelingen mir leicht. Danach geht es erst zum Balletunterricht und ich entpuppe mich als talentiertes Mädchen, was meinen Eltern und mir einige Jahre später noch einigen Zwist bescheren wird.
Davor drücken wir uns durch Herrn Schreibers Buchladen. Dies werden wir auch später noch tun, wenn das Taschengeld aufgestockt sein wird für die von Deutschlehrern verlangten Käufe von Reclamheften. Pole Poppenspäler, Hanni & Nanni, Dolly, die fünf Fragezeichen, Lessings Nathan, Emilia Galotti und der Urfaust werden in den nächsten Jahren in unsere Hände gelangen. Bis dahin hatten wir nur Taschengeld und kauften bei Herrn Schreiber Radiergummis und Spitzer. Sein Buchladen war eine Kirche. Turmhoch hatte er Bücher aufgestapelt, denn seine Regale reichten nicht aus. Wenn wir ein Buch oder Reclamheft verlangten, rollte er nachdenklich die Augen und schwieg. Dann ging er vorsichtig und langsam durch die verbliebenen Gänge durch seine Büchertürme. Er zog hier und überlegte da, um dann sogleich das begehrte Stück auch in zweifacher Ausfertigung zum Tresen zu bringen. Wir trauten uns kaum, in seinem Laden herum zu laufen, denn die Buchtürme waren krumm und schief, und zu groß war unsere Angst, wir könnten einen umreißen. Aber wir hatten das sichere Gefühl, in einer heiligen Atmosphäre so einer Art Sankt Martin gegenüber zu stehen, der mit uns seinen Mantel teilte.
1975 ist es, als ich in der sechsten Klasse des Elisabethengymnasiums das Toto-Lotto-Geschäft von Herrn Klemm endlich betreten darf. Ich muss keine Schulbrote mehr mitnehmen, sondern darf bei ihm für kleines Geld einkaufen. Ich bin immerhin zwölf und fange an, ein Gefühl für „cool“ zu entwickeln. Wer beim Zeichen zur großen Pause zuerst aus dem Klassenraum ist, hat gute Chancen bei Herrn Klemm in der ersten Reihe zu stehen. Es gelingt mir täglich, einen „Gedetschten (Brötchen mit zerquetschtem Schokokuss) zu ergattern und cool vor der Schule damit herum zu stehen. Erst ein Jahr später begreife ich, dass es viel cooler ist, etwas später bei Herrn Klemm anzulanden. Wir stehen dann hinter den großen Jungs aus der Klasse über uns. Wenn wir dann endlich in den Schulhof zurück kommen, stehen die großen Jungs schon verbotener Weise rauchend vor der Schule. Da kein Durchkommen ist, stellten wir uns einfach kichernd dazu und kommen zu spät zum Unterricht. Das ist cool und cooler wird es erst, als wir drei Jahre später aus den Fenstern springen, um auf dem Römerberg zu protestieren. Mal mit dem Stadtschülerrat, mal wegen der Startbahn West und später wegen der Pershings und auch sonst allerlei Dingen, die sich bis heute nicht gebessert haben.
To be continued…. mit dem italienischen Teil meiner Läden der Kindheit.
Read on sagte:
Was für ein wunderbarer Spaziergang! Schön die Welt mit ihren Augen sehen zu dürfen.
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meertau sagte:
hofknicks liebe read on…. und merci 🙂
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tikerscherk sagte:
Sehr schön, dieser Streifzug durch das Frankfurt der 70er Jahre.
Ich war auf dem Helmholtz-Gymnasium und habe auf dem Schulfest des Elisbethen-Gymnasiums meinen ersten Auftritt mit grün gefärbten Haaren gehabt.
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Irgendwann wurde das Klingeln in unserer Schule wg Anwohnerbeschwerden gegen ein Blinken eingetauscht, das man natürlich leicht übersehen konnte, um weiter mit den älteren Jungs zusammen stehen zu können und ihnen beim Rauchen zuzuschauen.
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Damals war der Merianplatz noch ein Drogenumschlagplatz und es gab dort eine öffentliche Badeanstalt, was immer das genau bedeutete.
Wir könnten uns so viel über das alte Frankfurt erzählen….
ich habe Ihren Text sehr gerne gelesen!
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meertau sagte:
oha…. ich bin mir sicher, dass wir uns schon mal gesehen haben. entweder beim schulfest oder am merianplatz. dort hatte ich 1987 meine zweite wohnung und an die badeanstalt kann ich mich gut erinnern.
danke fürs gerne lesen und ja bitte…. irgendwann mal erzählen…. wenn die zeit reif ist.
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Flowermaid sagte:
… Wasserhäuschen… was für ein heimeliger Begriff für vieles, das man braucht… 😉
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meertau sagte:
ja, in Frankfurt heißen die Trinkhallen „Wasserhäuschen“…. (was ein frommer Wunsch war, denn Wassertrinker fand ich dort nie)
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Flowermaid sagte:
*lach* das ist wohl wahr!
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wattundmeer sagte:
Gib es zu, Du wolltest doch nur das Eierlikörchen! Mit Matschbrötchen bin auch ich groß geworden (so viel zu gesunder Ernährung) und auch unsere Jungs waren interessanter als der Unterrichtsbeginn. Nur demonstriert wurde in meiner Kleinstadt nicht. Meine ersten Demos organisierte der AStA.
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meertau sagte:
ja 🙂 Eierlikörchen fand ich super. Mir fiel das vor drei Jahren wieder ein und prompt bin ich losgezogen, um eine kleine Flasche Eierlikör zu erstehen…. Grinz.
Neben den Gedetschten (Matschbrötchen…. welch schönes Wort) liebte ich auch Gammler (geröstete Brötchen mit Ketchup).
Auch wenn ich mich bemühe, gesund zu leben, so muss doch Gedetschter, Gammler und Eierlikör auch heute noch gelegentlich sein 🙂
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kat+susann sagte:
70ger…. wir haben den gleichen Jahrgang nehme ich an ..
Mit Milch konnte man mich auch bis ans Ende der Welt jagen.. besonders eklig zur Stärkung mit rohem Eigelb und Zucker.. bjaaah schüttel.. dafür gabs dann Lebertran .
Bei uns war in der Pause der run um die Susisunkisttüten. 🙂
und Schokokuss Brötchen kaufe ich jetzt noch manchmal .. in der Cafeteria im Krankenhaus.. in Einzelteilen.. und das Knacken beim Zusammenquetschen freut mich immer noch..
Bin gespannt wies in Italien in deiner Kindheit war.
lieben Gruss
S.
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meertau sagte:
kicher….. ich mag das Geräusch auch und gönne es mir zuweilen 🙂
Lebertraaaaaaaaaaaaaaaaaaaaan…… jöööööö….. jetzt wo ich das lese, kriecht mir sofort der Geruch in die Nase.
1967 setzte ich mich in die frisch gefüllte Kaffeetasse meiner Großmutter und verbrannte mir den Popo so derart, dass er wochenlang mit Lebertran eingecremt werden musste.
mir wurde da regelmässig übel, aber der Po ist bis heute narbenfrei 🙂
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kat+susann sagte:
wow.. wusste gar nicht, dass man Lebertran wohin schmieren kann… lach..
ich musste den trinken.. als Aufbaukur..😝
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meertau sagte:
Puh…. trinken kommt auf der schlimm-Skala noch vor brandwundenpflege……,brrrr
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Jules van der Ley sagte:
Vielen Dank für deine vielfältigen Erinnerungen. Es ist eine hübsche Idee, die Läden chronologisch, prarallel zu deinem Lebensalter aufscheinen zu lassen und gleichzeitig veränderte Verhaltensweisen zu reflektieren. Besonders hat mir Herrn Schreibers Buchladen gefallen. Das ist alles sehr stimmungsvoll.
Beste Grüße,
Jules
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meertau sagte:
Lieben Dank, für Deine netten Worte. Ein herrliches Projekt hast Du da installiert und ich lese mich gerade mit Freude, durch die vielfältigen Beiträge.
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Lakritze sagte:
Oh, was für ein Buchladen. Den hätte ich gern, mitsamt dem Mantelteiler (so ein schönes Bild!).
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meertau sagte:
ja…. der Laden war ein Paradies. Und der alte Herr Schreiber ist lange schon tot und es ist schade, dass er nicht weiß, dass man (also ich) über ihn schreibt.
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Bludgeon sagte:
Stichwort verbotener Bäcker in Schulnähe – kenn ich gut.
Um die Startbahn West und Anti AKW Proteste hab ich den Westen beneidet. Wenn’s auch nüscht genützt hat damals (Manchmal fällt der Regen eben lang….), ne Menge guter Musik ist dadurch bekannt geworden, weil es Themensendungen gab: Grobschnitts „Wir wollen leben“ z.B. und Erocs „Wald“, Stoppoks „Pappnasen“, Grölemeyers „Jetzt oder nie“, Acapulco Gold’s „Sodom und Gomorrha“ und der ganze Bap-Hype … Aufbruchstimmung einfach…aber wohin hoads uns broachd?
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meertau sagte:
Jaaaa stimmt :-)….. da waren all diese Musikern, während der Regen doch so langsam fiel.
Auf den pershing Demos sangen wir immer das
https://m.youtube.com/watch?v=DNZ30WxvQkk
…..
Naja…. wir waren ja auch jung und hatten bei allem Ernst, jede Menge Spaß und Party…. räusper!
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Bludgeon sagte:
Robert Long fällt mir da noch ein „Wenn ich noch 50 werd, bevor das Pulverfass hier hochgeht – ists ein Wunder….“; Hannes Wader „Es ist an der Zeit“ gabs auch noch; ein geniales Lied von einem , den ich ansonsten nicht so mag, weil er in Sachen DDR einfach falsch gewickelt war.
Wir im Osten hatten auch unsere Geheimtipp-Bands und Undergroundbühnen, von denen es leider auch nach der Wende fast niemand geschafft hat, bekannt zu werden: Regenwiese, Kabasurdes Abrett, Sandow, Keks, Folkländers Bierfiedler, Wind, Sand & Sterne … und mindestens 10x Pankows „Paule Panke“ liiiiive!!!
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meertau sagte:
Spannend! Sicher hat sich jemand die Mühe gemacht, ein paar lifemitschnitte auf utube hoch zu laden???
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Bludgeon sagte:
leider nein.
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