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lese ich im benachbarten Teestübchen und schon startet der Film im Kopfkino so, als sei er erst gestrig gedreht.

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Wir schreiben die Jahre 1967-1969 und ich werde zwischen dem italienischen Gerberdorf und Frankfurt hin und her verschoben. Heimweh kenne ich nicht. Das habe ich erst mit Mitte Zwanzig  aus unterschiedlichen Gründen entwickelt. Ich kann mich allerdings noch gut an meine Panik erinnern, als ich vierjährig in Bologna im Kaufhaus Upim verloren ging. Keine Mutter, keine Nonna in Sicht und ich mittendrin in dem Gewusel. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf: „Jetzt musst Du dir sofort ein neues zu Hause suchen“. So stand ich ratlos unter den Arkaden, als panische Mutter und panische Nonna mich fanden. Während ich in Deutschland Mutter, Kinderarzt und Kindergarten mit meiner Appetitlosigkeit in Aufregung versetzte, ging ich in Italien zum Alimentari und bei der Nonna gab es zum Mittagessen einen Schluck Rotwein mit Sprudel aufgegossen. Sonntags gingen wir Essen zum „Bei“. Ich war den Tränen nah, als ich ihn zum 70. meiner Mutter und ihrer Zwillingsschwester wieder betrat.

Unsere Wohnung lag direkt am Marktplatz, Ecke Ho-Chi-Min-Straße. Das stinkende Gerberdorf hatte eine alte rote Tradition. Mein dritter Großvater Ugo, der ein eigenes Kapitel verdient, hatte schon unter Mussolini die rote Fahne auf dem Balkon platziert. Und er war nicht der einzige, sondern ganz im Gegenteil: das halbe Dorf hatte damals aus Protest gegen die Faschisten, die roten Fahnen aus den Fenstern gehängt. Vermutlich waren die Italiener schon im Faschismus nicht so pingelig und konsequent wie die Deutschen, drum durften da im Dorf alle Roten überleben.

Unter der Woche spielten wir Kinder auf dem Marktplatz, am Arno und in den Hinterhöfen. Samstags allerdings, war der ganz besondere Tag.

„Andiamo al Mercato“…. Sagte die Nonna und so traten wir aus dem Haus direkt auf den Marktplatz. Frauen kauften lebende Hühner und banden sie kopfabwärts hängend an ihre Fahrräder. Nachmittags sah man sie in den Hinterhöfen sitzen und die gemordeten Hühner rupfen. Mitleid empfand ich als Kind nicht. Nur ein einziges Mal, als ich sah, wie eine alte Frau mit einem dicken Knüppel hinter einer Katze her lief. Ich hoffe noch heute, dass die Katze der alten Hexe entkam. Auf dem Markt gab es einfach alles: Unterhosen für die Nonna, Töpfe, Hühner, langweiliges Gemüse, öltriefende Bomboloni fritti und vor allem gab es Käsestand. Es gehörte zu unserem samstäglichen Ritual, das wenn wir am Käsestand ankamen, die freundliche Marktfrau mir ein großes Stück Parmigiano reichte. Den verschlang ich genüsslich und hopste dann fröhlich davon. Kurz zuvor hatte mir die Nonna 100 Lire (damals ca. 50 Cent) in die Hand gedrückt, damit ich mir am Spielzeugstand etwas aussuche. Dies war der längste und schönste Teil des Marktes, denn ich stand mindestens eine Stunde lang an der Tavola con i Giocattoli. Die Nonna war längst wieder zu Hause, hatte die Taschen ausgepackt und das Mittagessen in Angriff genommen und ich stand immer noch unschlüssig herum. Für 100 Lire konnte man einzelne kleine Plastikmöbel kaufen, die in Puppenhäuser passen. Oder aber kleine Plastikmonster oder aber kleine Plastikpuppen. In Gedanken ging ich durch, was ich schon besaß und was ich unbedingt noch haben wollte und der Entscheidungsprozess zog sich hin. Es war alles irrsinig bunt und ich vermute, ich schwankte mehr zwischen den Farben, als zwischen den Gegenständen. Die ließ ich mir spätestens zwei Tage später von Stefania und Stefano – dem Geschwisterpaar aus unserem Haus – wieder abluchsen. Die wisperten hinter meinem Rücken und versuchten mir die Sachen zu klauen. Ich tat so, als ob ich es nicht merke und ließ ihnen die Freude. Eigentlich hing ich noch nie an Dingen.